In den vergangenen Wochen wurden an mehreren Standorten in Deutschland Schluckimpfstoff-abgeleitete Polioviren in Abwasserproben nachgewiesen. Die Untersuchung von Abwasser wird als Frühwarnsystem genutzt, um möglichst schnell aufzudecken, ob in der Bevölkerung Menschen unter anderem mit Polioviren infiziert sind und diese ausscheiden. Ungeimpfte oder nicht vollständig geimpfte Personen können sich bei infizierten Menschen anstecken und an Poliomyelitis (Kinderlähmung) erkranken.
Poliomyelitis, auch Kinderlähmung genannt, ist eine hochansteckende Krankheit, die vor allem Kinder unter fünf Jahren betrifft und bei nicht ausreichend immunisierten Personen zu dauerhaften Lähmungen führen kann. Sie wird vor allem fäkal-oral übertragen. Die Krankheit kann durch Polioimpfungen verhindert werden. Weltweit existieren zwei Arten von Polioimpfstoffen: eine Schluckimpfung, die abgeschwächte vermehrungsfähige Impfviren enthält und ein inaktivierter Polioimpfstoff (IPV), der in den Muskel gespritzt wird. Die Schluckimpfung wird derzeit noch in manchen Ländern eingesetzt, seit 1998 aber nicht mehr in Deutschland. Die Schluckimpfung ist sehr effektiv, jedoch können die abgeschwächten Impfviren wieder ausgeschieden werden und sich genetisch so verändern, dass sie andere Menschen infizieren und eine symptomatische Erkrankung hervorrufen können.
Die europäische Region gilt seit 2002 als Polio-frei. Um das Neuauftreten von Poliomyelitis-Fällen in Deutschland zu verhindern, ist es notwendig, dass möglichst viele Personen rechtzeitig und vollständig gegen Polio geimpft sind. Ziel ist eine Impfquote von mindestens 95 % mit 3 Impfstoffdosen bis zum Ende des 1. Lebensjahres. Die aktuellen Impfquoten in Deutschland zeigen, dass diese Grundimmunisierung bei einem erheblichen Teil der Kinder unter 6 Jahren verspätet abgeschlossen wird oder lückenhaft bleibt. Da die Polioimpfquoten regional erheblich variieren, weist Sachsen-Anhalt eine Impfquote für eine vollständige Grundimmunisierung zwischen 60-89 % auf.
Angesichts der aktuellen Impfquoten und der nun im Abwasser nachgewiesenen Schluckimpfstoff-abgeleiteten Polioviren besteht die Möglichkeit, dass in Deutschland Infektionsketten in der Bevölkerung nachgewiesen werden und auch wieder Menschen an Poliomyelitis erkranken. Um dies zu verhindern, müssen Impflücken schnellstens und altersgerecht geschlossen werden, insbesondere bei Säuglingen, Kleinkindern und Vorschulkindern sowie zusätzlich auch in Regionen mit besonders niedriger Impfquote bei älteren Kindern.
Zum Schutz vor Poliomyelitis empfiehlt die Ständige Impfkommission (STIKO) die Grundimmunisierung von Säuglingen mit 3 Impfstoffdosen im Alter von 2, 4 und 11 Monaten. Für die Impfung soll ein 6-fach Impfstoff (DTaP-IPV-Hib-HepB) verwendet werden, der neben Polio auch vor Tetanus, Diphtherie, Haemophilus influenzae Typ b, Keuchhusten und Hepatitis B schützt. Der Totimpfstoff wird gut vertragen. Im Alter von 9 bis 16 Jahren wird die 1-malige Auffrischimpfung mit dem altersentsprechenden Impfstoff empfohlen.
In der aktuellen Situation ist es wichtig, den Impfstatus von Kindern als besonders vulnerable Gruppe für Poliomyelitis zu überprüfen und versäumte Impfungen schnellstmöglich nachzuholen. Die STIKO ruft daher alle Erziehungsberechtigten auf, den Impfstatus ihrer Kinder selbst zu überprüfen oder von medizinischem Personal in der Kinderarzt- bzw. Hausarztpraxis überprüfen zu lassen und fehlende Impfungen in Absprache mit ihrer Ärztin oder ihrem Arzt baldmöglichst nachzuholen. Leichte Erkältungskrankheiten sind kein Grund, fällige Impfungen zu verschieben. Unabhängig vom Alter ist auch bei Personen, die in Gemeinschaftsunterkünften leben (z.B. Geflüchtete und Asylsuchende), sicherer Schutz besonders wichtig.